Der „schüchterne“ Diabetiker
Im November 2014 hielt ich an 2 Tagen hintereinander einen kurzen Vortrag auf der Wiener Seniorenmesse, bzw. wurde ich vom beliebten Kabarettisten Gerald Pichowetz zum Thema Diabetes interviewt. Als Gerald zu Beginn die Frage an das zahlreich vertretene Publikum stellte, „wer denn alles selbst von Diabetes betroffen wäre“, meldeten sich gerade einmal 4 Personen. Aktuellen Studien zufolge hätten allerdings zumindest 20 % der anwesenden Männer (also in etwa 60 Personen) aufzeigen müssen, denn jeder 5. Mann im Alter von 60 bis 79 Jahren ist bereits betroffen.
Die offensichtlich nicht vorhandene Identifikation mit der eigenen Erkrankung ist jedoch nicht das einzige Übel, denn eines wurde mir in Folge zahlreicher Gespräche in diesen Tagen ganz klar vor Augen geführt: Die Mehrzahl der Diabetiker Typ 2 hat nicht die geringste Ahnung über ihre Erkrankung. Offensichtlich ist es einfacher die Verantwortung betreffend der eigenen Gesundheit an Dritte abzugeben und blind darauf zu vertrauen, dass schon das richtige diagnostiziert werden wird. Ob die daraufhin empfohlene Therapie auch wirklich im Sinne des „neuen Diabetikers“ ist?
Das Wissen um die eigene Krankheit
In meinen Unterhaltungen mit Diabetikern musste ich feststellen, dass diesen essentiell wesentliche Informationen fehlen. So war nicht klar, wie & warum Diabetes Typ 2 überhaupt entsteht und noch viel weniger, wie man damit umgehen sollte. Ganz im Gegenteil: Ich musste mehr als 1x hören, dass der behandelte Arzt vom so wichtigen, regelmäßigen Blutzuckermessen abrät! Warum? Da es den Patienten entmutigen würde! Entmutigen? Wo der Patient doch angeblich „gut eingestellt“ ist? Warum also dann entmutigen?
Ich sehe es mittlerweile als meine Berufung an, von der Krankheit betroffene Menschen auf ihrem selbstbestimmten Weg zu unterstützen und versuche herauszufinden, warum sich Diabetes Typ 2 auf dem Weg zur Volkskrankheit Nr. 1 entwickelt. Eine unabdingbare Voraussetzung zur selbstbestimmten Therapie ist, die Krankheit in- und auswendig zu kennen und sie im Detail zu verstehen.
Diabetes Typ 2 entsteht nicht über Nacht. Die Krankheit entwickelt sich über viele Jahre, im Schnitt dauert es sogar bis zu 20 Jahre, bis sich Diabetes bemerkbar macht. Eine lange Zeit, in der man keinerlei Symptome bemerkt, dass macht Diabetes so heimtückisch und gefährlich und die Notwendigkeit einer regelmäßigen Gesundenuntersuchung mehr als empfehlenswert.
Sind Diabetes und Adipositas vererbbar?
Die Stoffwechselerkrankung Diabetes Typ 2 ist eine der am schnellsten wachsenden Volkskrankheiten, gleichzeitig werden immer mehr Menschen fettleibig. Eine zufällige Parallele? Ganz bestimmt nicht! Adipositas und Diabetes haben vieles gemein, an vorderster Front stehen falsche Ernährung und Bewegungsarmut. Und genau diese 2 Ursachen sind die primären Übeltäter bei der Entstehung von Diabetes Typ 2. Dieses Risiko entsteht sogar bereits im Mutterleib. Übergewichtige werdende Mütter bekommen leichter Schwangerschaftsdiabetes und prägen so die Biofunktionen des Fötus. Durch die gestörte Zuckerverwertung werden deren Kinder schwerer und haben bereits im Alter von 8 Jahren einen höheren Blutzuckerspiegel als Gleichaltrige.
Woher erhalten unsere Zellen Energie?
Wofür benötigt unser Organismus überhaupt Nahrung und was macht er damit/daraus? Die Zellen in unserem Körper benötigen Energie und die erhalten sie primär aus der Nahrung. Diese wird zuerst verdaut, danach ins Blut aufgenommen, in die Zellen verteilt und dort oxidiert, um Speicherenergie zu produzieren. Diese Oxidation des Traubenzuckers (Glucose), der vor allem in kohlenhydrathaltigen Speisen enthalten ist, nennt man Zellatmung. Die Kraftwerke der Zellen nennt man Mitochondrien, sie haben ihren Namen aufgrund ihrer Funktion als Energieversorger erhalten. Mitochondrien befinden sich vor allem in Zellen mit hohem Energieverbrauch, wie z.B. Muskel-/Nerven- und Sinneszellen. Durch Training (primär Ausdauertraining) lassen sich die „Zellkraftwerke“ sogar vermehren und verbessern so die Energieversorgung. Vereinfacht bedeutet das, dass unsere Nahrung (vorwiegend die Kohlenhydrate) in Traubenzucker umgewandelt wird und als Energie in unsere Zellen befördert wird. Dabei ist der Traubenzucker (=Glucose=Blutzucker) der wichtigste Energieträger für unsere Zellen.
Warum ist Insulin so wichtig?
Wie wird eigentlich die benötigte Energie, in Form von Blutzucker, zu unseren Zellen transportiert? Hier kommt nun das lebensnotwendige Insulin ins Spiel, es ist sozusagen das Transportmittel und zugleich das wichtigste Hormon der Blutzuckerspiegelregulierung, denn es senkt den Blutzuckerspiegel im Blut. Ohne Insulin geht rein gar nichts, es ist das Hormon der Energiespeicherung, denn es steuert die Verwertung und Speicherung des Blutzuckers. Zusätzlich fördert es jedoch auch den Fettaufbau. Insulin entsteht bei gesunden Menschen – und auch bei nicht (kunst)insulinpflichtigen Diabetikern – in der Bauchspeicheldrüse. Es wird dort in den sogenannten Beta-Zellen gebildet. Es sorgt dafür, dass der Blutzucker im Körper als Glykogen gespeichert wird. Gleichzeitig ist es dafür verantwortlich, dass die bereits gespeicherte Energie nicht wieder freigesetzt wird.
Insulinresistenz bei Diabetes Typ 2
Diabetes Typ 2 weist zumeist auf eine Insulinresistenz gegenüber den eigenen Beta-Zellen hin. Das bedeutet, dass die betroffenen Zellen gegen das körpereigene Insulin zumindest teilweise resistent sind und somit auch der erforderliche Blutzucker nicht mehr zur Gänze dort ankommt, wo er angefordert wurde – in- und von unsere(n) Zellen. Medizinisch spricht man von einem verminderten Ansprechen der insulinsensitiven Organe (Leber, Muskel und Fettgewebe) und einem fortschreitenden Versagen der Beta-Zellen.
Da nicht mehr genügend Energie in unsere Zellen gelangt, fordern diese „Nachschub“ und die Folge daraus ist, dass die Bauchspeicheldrüse immer mehr Insulin produziert – so lange, bis sie erschöpft ist.
Insulinüberschuss trotz Insulinresistenz?
Das Spannende daran ist, dass meist zum Zeitpunkt der Diagnose Diabetes Typ 2 noch ein „relativer“ Insulinüberschuss vorhanden ist. Wenn man zu diesem Zeitpunkt statt Medikamente einzunehmen eine Lifestyle Intervention (Lebensstiländerung) vorzieht, ist die Chance, eine Umkehr der Insulinresistenz zu erwirken, sehr groß! Anstatt dessen werden jedoch oft Medikamente (Sulfonylharnstoffe, Glinide) verschrieben, die die Insulinausschüttung zusätzlich anregen. Damit erreicht man selbstverständlich das Gegenteil des erwünschten Effekts. Die Bauchspeicheldrüse ermüdet noch rascher, die Insulinresistenz schreitet schneller voran. Immer häufiger hört man sogar von einem verfrühten Einsatz von Kunstinsulin, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt mit weit weniger „radikalen Mitteln“ therapiert werden könnte.
Ob man noch ausreichend eigenes Insulin besitzt, kann man im Labor übrigens leicht messen – dazu sollte man im nüchternen Zustand die Glukose und C-Peptid Werte überprüfen lassen. Auf eigene Kosten, denn die Krankenkassen bezahlen diese aussagekräftige Untersuchung leider nicht.
Insulinresistenz und Kohlenhydrate
Doch wie kommt es nun zu einer Insulinresistenz, was ist der eigentliche Grund dafür? Wie wir gelernt haben, wandelt der Körper zwecks Energiegewinnung die Kohlenhydrate aus unserer Nahrung in Glucose/Traubezucker/Blutzucker um und befördert diese mithilfe des Insulins in unsere Zellen. Sobald wir kohlenhydrathaltige Nahrung zu uns nehmen, findet eine Insulinausschüttung statt. Vereinfacht kann man festhalten: Je öfter wir Kohlenhydrate aufnehmen, desto häufiger kommt es zu einer vermehrten Insulinausschüttung.
Kohlenhydrate unterteilt man bekanntlich in die sogenannten „langsamen/komplexen“ Kohlenhydrate und die „schnell verfügbaren/raschen“ Kohlenhydrate. Und dann gibt es auch noch die (chemisch) isolierten Kohlenhydrate, wie z.B. Haushaltszucker. Für die Verstoffwechslung der langsamen/komplexen Kohlenhydrate benötigt der Körper weniger Insulin, als für die Umwandlung in Energie aus schnellen – oder gar isolierten – Kohlenhydraten.
Schlussfolgerung:
Langsame, komplexe Kohlenhydrate = weniger Insulinausschüttung erforderlich, da diese Kohlenhydrate langsamer ins Blut geraten und der damit verbundene Blutzuckeranstieg langsamer vonstattengeht.
– Schnell verfügbare, oder isolierte Kohlenhydrate = raschere Verfügbarkeit von Insulin erforderlich. Die in der Nahrung enthaltenen Kohlenhydrate gereichen sehr schnell ins Blut, die Folge ist eine äußerst rasche Insulinreaktion – Blutzuckerspiegel steigt sehr schnell
Wenn wir nun unseren Körper häufig mit zu viel rasch verfügbaren, oder – noch schlimmer – isolierten Kohlenhydraten fordern, und so unsere Bauchspeicheldrüse über einen längeren Zeitraum zu sehr stressen, kommt es mit der Zeit zu besagter Insulinresistenz. Die Bauchspeicheldrüse wird durch die permanente Zufuhr von rasch verfügbaren Kohlenhydraten gestresst und unsere Zellen werden durch den ständigen Überfluss von Insulin und Blutzucker im Blut immer resistenter.
Unter Resistenz in diesem Zusammenhang versteht man übrigens die nachlassende Wirkung körpereigener Hormone (hier: Insulin), da die sogenannten Rezeptoren an den Zellen bereits vermindert ausgeprägt sind.
Was könnte die optimale Behandlungsmethode bei einer Insulinresistenz sein?
Sagt uns nicht schon die Logik, dass der Zustand einer Insulinresistenz nur auf die gleiche Art rückgängig gemacht werden kann, als er herbeigeführt wurde? Sollten wir folglich nicht einfach weniger Kohlenhydrate zuführen und rasch verfügbare (schlechte) Kohlenhydrate wie Weißmehl, Zucker & polierten Reis gänzlich meiden?
Gibt es so etwas wie eine Kohlenhydratintoleranz?
Immer mehr Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass Diabetes Typ 2 eigentlich eine Kohlenhydratkrankheit ist und man sie daher auch mit einer Kohlenhydratreduktion bekämpfen sollte. Oder würden Sie laktosehaltige Milch zu sich nehmen, wenn man bei Ihnen eine Laktoseintoleranz festgestellt hat? Mit der gleichen Berechtigung könnten man also bei Diabetes Typ 2 auch von einer Kohlenhydratintoleranz sprechen, was meinen Sie dazu?
Kann man Diabetes Typ 2 durch eine Lebensstiländerung wieder loswerden?
Die Deutsche Diabetes Stiftung formuliert dazu wie folgt -ich zitiere:
„Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass durch einen veränderten Lebensstil
nicht nur die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes verhindert werden kann. Mehr noch – mit
einer konsequenten Lebensstil-Änderung kann man seinen Typ-2-Diabetes sogar loswerden.
Mediziner sprechen in so einem Fall von einer Remission, bei der die Blutzuckerwerte –
ohne Medikamente – im Normbereich liegen.“
Wie immer ein super Artikel – DANKE.
Ich hoffe ich komme bald dazu, vielleicht in den stilleren Adventtagen, einen längeren Kommentar oder Gastbeitrag zu verfassen. Bin nicht „schüchtern“, aber sehr „beschäftigt“ (in positivem Sinne, also mit vielen Dingen die mich erfreuen).
Kann praktisch allem, was Herr Berndt so sagt, vollinhaltlich zustimmen, hab ähnliche Erfahrungen gemacht, bin Diabetiker Typ II, diagnostiziert im März 2014…. 51 Jahre alt…. – durch Bewegungsarmut, Gewichtszunahme, „falsches“ Essen (war ein Nudel- und Reis-Tiger), und familiäre Vorbelastung (Vater + Bruder).
Habe seit Anfang 2014 nun etwa 20kg abgenommen (wovon mir ca 7kg von der Diabetes vor der Diagnose „geschenkt“ wurden),
… meine Ernährung im April vollkommen umgestellt (low-carb; Getreide durch Gemüse ersetzt; kein Zucker, keine Nudeln, selten Reis, aber durchaus ab und an Kartoffel; Fleisch und Fisch wie zuvor; viel Salate; auch Obst, Fruchtzucker wird vertragen) ….
…. seit April auch wieder regelmässig Sport (Fittness-Center 2-3x/Woche, viel spazieren gehen, fast gäglich)
… und dadurch den Blutzucker von Ausgangslage 334mg/dl nüchtern innerhalb weniger Wochen auf UNTER 100 runtergebracht, also in den „gesunden Bereich“ – völlig ohne Medikamente (obwohl mir diese natürlich zuhauf verschrieben wurden; ich hab sie mir aber besorgt und zur Abschreckung vor die Nase gehängt; war ein Experiment, mein Bruder hatte Jahre zuvor noch paar Monate Medikamente genommen…. gleichzeitig Sport, Ernährung umgestellt, abgenommen… und dann nach paar Monaten konnte er damals auch schon die Medis wieder absetzen… – ich hab mir gedacht, ich probiers überhaupt erstmal mit Umstellung, Medis kann ich dann 2-3 Monate später noch immer nehmen, falls die Umstellung nicht fruchtet.
Aber sie hat super gefruchtet, ich konnte mir die Chemiekeule also bisher sparen, bin seit Mai im Durchschnitt täglich zwischen 90 und 100 im Nüchternzucker, manchmal knapp unter 90, manchmal knapp über 100, aber praktisch nie über 110. Und auch 1-2 Std nach dem Essen meist zwischen 100 und 120, sehr selten über 140, nie über 160. Freue mich schon auf den Langzeitzucker, den ich dann nach einem Diabetesjahr im März testen lassen werde.
Blutdruck ebenfalls von ca 140-150/90-95 (Ausreisser auch höher) auf 110-135/70-90 gesenkt.
Ich fühle mich fit wie seit 10 Jahren nicht, sehe 10 Jahre jünger aus, und kann nur sagen „Danke liebes Schicksal für die Diabetes“. Ich sehe sie – für mich – als reinen Segen! Ich brauchte diesen Tritt in den Hintern, um mein Leben wieder umzustellen (war bis zum Jahr 2000 sehr schlank und immer sportlich; danach Couchpotato…)
Es ist schön, dass es diesen Blog gibt und all diese Informationen und die Hoffnung lebt, dass mehr und mehr hier Diabetes als Chance empfinden und ihr Leben zum positiven verändern.
glg, Edgar